2014 veröffentlichte die indische Autorin Meena Kandasamy auf Englisch den Roman The
Gypsy Goddess, der hier nun in deutscher Übersetzung geboten wird. Sie erzählt darin von
dem Massaker in Kilvenmani (Süd-Indien), bei dem 1968 vierundvierzig landlose Dalit (›Unberührbare‹),
Landarbeiter, in ihren Hütten verbrannt wurden. Kinder und Frauen wurden nicht
geschont. Die Mörder wurden von Grundbesitzern beauftragt. Eine Strafaktion gegen den Anspruch
der Landarbeiter auf bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen. Sie hatten sich der
kommunistischen Partei angeschlossen und das Undenkbare gewagt: die Stimme zu erheben.
Ihre Bitte um eine halbe Portion Reis mehr am Tag führte zu ihrer Ermordung.
Aber was heißt, Kandasamy erzählt? Kann sie das, die 16 Jahre nach dem Massaker Geborene,
der die Geschichte nur durch mündliche Berichte, Zeitungsartikel und Gerichtsakten zugänglich
ist? Das Archivierte zeugt von einem Justizskandal. Polizei, Politiker und Richter waren
auf Seiten der Grundbesitzer und setzten sich brutal gegen die Unberührbaren durch, deren
Ohnmacht und Schweigen ein weiteres Mal besiegelt wird. Einen Roman zu veröffentlichen ist
ein Akt bürgerlicher Souveränität, eine Möglichkeit, die eine entscheidende Differenz markiert
zu den Menschen, denen Kandasamy sich widmen will. Sie ist auf der anderen Seite, verfügt
über die Macht der Sprache und des Wissens.
Kandasamy zerstört alle Erwartungshaltungen an Form und Sprache, kokettiert nicht mit
Exotismus oder geübtem Storytelling. Und gibt dem Ernst und der Tragik der Geschichte auf
paradoxe Weise eine kraftvolle zusätzliche Dimension. Kollektiver Widerstand und individuelles
Handeln erhalten als Geschichte und literarisches Szenario neue Brisanz.
»Gewaltig….Gypsy Goddess hat einen lyrisch, radikalen Kern, der einen mutigen Blick auf die
Beziehung zwischen Armut und Macht wirft.« Guardian
Meena Kandasamy, geboren 1984 in Indien, ist Lyrikerin, Übersetzerin,
Aktivistin und Doktorin für Linguistik. Als Tabubrecherin bekannt, von den
einen bejubelt, von den anderen gehasst, thematisiert sie in ihren Gedichten
die Rechte der Frauen, das Kastensystem im heutigen Indien, Prostitution
und Gewalt. Durch ihr mutiges und engagiertes Auftreten, nicht erst
seit der Herausgabe ihrer Gedichtbände ist sie ständigen Diffamierungen
und Bedrohungen ausgesetzt. Sie lebt heute in
Chennai, Indien.
Claudia Wenner, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Literaturkritikerin,
Herausgeberin, übersetzte u.a. Virginia Woolf, Raymond Carver und
Quentin Bell. 1998 ging sie als DAAD-Lektorin nach Delhi und widmet
sich seither indischer Kultur. Für die Neue Zürcher Zeitung schreibt sie
regelmäßig über Indien. Sie lebt im südindischen Pondicherry und in
Frankfurt.